Luis Stabauer – Das große Zaudern

Luis Stabauer lebt als freier Schriftsteller in Wien und Seewalchen am Attersee. Als Autor und Welt-Reisender beschäftigt er sich hauptsächlich mit Menschen und deren gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen in Europa und Lateinamerika. Zuletzt erschienen die Romane Wann reißt der Himmel auf, Atterwellen, Die Weißen sowie der Gedichtband UND. Sein aktueller Roman BRÜCHIGE ZEITEN ist ein hochaktueller, politischer „europäischer Entwicklungsroman“. Der Autor liest am 8. April im Rahmen einer online Veranstaltung aus dem Linzer Central, musikalisch begleitet wird er dabei von Reinhart Sellner. Für diese Veranstaltung sind Tickets verfügbar, link & Passwort werden per email zugesandt.

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„Die eigentliche Stärke von Frauen, die einen Wirbel machen, besteht nicht darin, dass sie die Wahrheit repräsentieren, sondern darin, Zeuginnen der Möglichkeit anderer Arten des Machens zu sein, die eventuell ein ‚Besseres Machen‘ sind.“[1]

Worauf warten wir? Verstand und Imagination zu trainieren und sich auch abseits ausgetretener Pfade zu bewegen ist nicht verboten. Gemeinsam Unerwartetes entwerfen, Verantwortung zu übernehmen und Wirbel zu machen ist noch keine Revolution. Obwohl, unser Verhalten werden wir revolutionieren müssen. Wir haben es mit einer Welt zu tun, die bewohnbar sein könnte, wenn wir diese Welt als Symbiose aller Arten und Organismen denken und unser Handeln daran orientieren.

Mit welchem Hintergrund werden kommende Erdlinge Berichte über uns verfassen? Nachfolgende Generationen werden zum Beispiel in den Erzählungen der Geflüchteten reale Geschichten über den beginnenden Systemzusammenbruch erkennen und sich wundern, dass dieser in der damaligen Zeit nicht in den offiziellen Dokumentationen aufscheint. Offensichtlich nicht Platz haben durften.

Befragen wir gegenwärtig Geflüchtete zu deren Geschichte, klingen sie für die Verständnisbereiten wie ein Thriller und für die Wächter des Fortschritts wie Bedrohung. Eine Bedrohung des Fortschritts, der aus mehr materiellem Wohlstand, abgesichert durch weiteres Wachstum, besteht.

Laut Brecht haben wir Schriftsteller*innen die Pflicht, die gesellschaftliche Situation nicht zu verschönern oder ein erfreulicheres Bild des menschlichen Lebens zu entwerfen. Das gilt solange bis er oder sie die Ursachen für aktuell vorliegende Probleme und probate Lösungen zur Verbesserung der Situation gefunden hat. Der/die Schriftsteller*in soll also erst dann von Besserung sprechen und hoffnungsvollere Bilder entwerfen, wenn er/sie sich über die Ursachen für die Missstände im Klaren ist.

So wenig sich die Literatur in den Dienst der Politik stellen darf, so sehr ist sie aufgerufen, mit Fiktionen eine geistige Welt zu erschaffen, wie sie sein könnte. Wenn wir von der gedachten Utopie nicht zwangsläufig in eine Dystopie abstürzen wollen, bleibt uns die Möglichkeit, eine gedachte und praktizierte Revolution in unsere Schriften aufzunehmen. Ein probates Werkzeug dafür sind literarische Fragen zur Gesellschaft, sowie zu allen Lebewesen dieser Erde.
Könnten wir die Sprachen aller Arten und Organismen verstehen, ihre Botschaften wären unüberhörbar, sie würden jaulen, heulen, würden markdurchdringend schreien. Das anthropogene Massensterben, eine Pandemie, verursacht durch das Virus Mensch, könnte zu neuem Denken und Handeln führen. Aber wir fragen sie nicht.

„Macht euch verwandt, statt Babys zu machen“ – schreibt Donna J Haraway in „Unruhig bleiben“ und verwendet gedachte Verwandtschaftsverhältnisse als Metapher für neue Beziehungen des Menschen zu Tieren und Pflanzen. Ihre ökologische Ethik zielt darauf ab, dass diejenigen, die verdrängt wurden – indigene Völker etwa oder aussterbende Tier- und Pflanzenarten –, einen Teil der Erde zurückgewinnen könnten.

Noch sind wir paralysiert. Ob aus der Angst vor Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, dem beschleunigten Massensterben, den sich ausweitenden Kriegen, der sozialen Desintegration, ob daraus das große Zaudern oder ein neuer Aufbruch wird, werden Schriftsteller*innen nicht unmittelbar beeinflussen können. Die Realitäten nicht aufzuzeigen, hieße jedenfalls, die Apokalypse fortzuschreiben.

[1] Women Who Make a Fuss: The Unfaithful Daughters of Virginia Woolf, I. Stengers/ V. Despret, Minneapolis 2014