Äußerst prekär flexibel

Rundbrief #4 | Kulturpolitik wagen! Liebe Freund*innen, liebe Engagierte!
Der 12-Stunden-Tag, die 60 Stunden-Woche sind derzeit in aller Munde. Expert*innen aus allen Bereichen werden um ihre Meinung gebeten. Aus ALLEN Bereichen? Nun, ich denke, eine Gruppe die besonders viel Erfahrung mit Flexibilisierung, Prekarisierung, Selbstausbeutung und Entgrenzung hat, kommt kaum zu Wort bzw. wird übersehen: die hart und viel Arbeitenden im Kunst- und Kultursektor. Auch zur Frage der ‚Freiwilligkeit‘ könnten sie sicher einiges beitragen. Womit wir schon bei der ‚Freiheit‘ wären. Welche Freiheit bekommen wir, wenn wir unsere Arbeitszeiten angeblich ‚frei‘ wählen können? Welche ‚Freiheit‘ ist es denn, wenn Künstler*innen ‚befreit‘ von Arbeitsverträgen, Arbeitszeit- und Ruhezeitbestimmungen und sozialrechtlicher Absicherung, ihrer Kreativität zu jeder Tages- und Nachtzeit ‚freien‘ Lauf lassen können? Mir ist klar, dass kreative Phasen in Kunst und Kultur nicht immer in ein zeitliches Konzept gepresst werden oder gar fix reglementiert werden können. Aber kann diese Tatsache ein Freibrief dafür sein, dass im Kunst- und Kulturbetrieb quasi alles geht und vor allem jede, die dort beschäftigt ist, dieser Art von ‚künstlerischer Freiheit‘ unterliegen muss? Und vor allem, wie steht es dann mit der Rolle des Kunst- und Kulturbetriebs als ‚Vorbild‘ für Arbeitsmarkt und Wirtschaft? Was passiert mit einer Gesellschaft, die Menschen besonders verehrt, die in Kunst und Sport über ihre Leistungsgrenzen gehen um Großes zu schaffen, zu ‚leisten‘? Und die dann zu ‚role models‘ für Industrie und Wirtschaft werden, die dann bei Veranstaltungen und Firmenevents auftreten um zu verdeutlichen: „Seht her, alles ist möglich, wenn man nur will und die ‚volle Leistung‘ aus sich herausholt!“ Ein Nützlichkeits- und Leistungsstreben, das einige Künstler selbst eingeholt hat: Erwin Wurm etwa meint vor knapp einem Jahr in einem Interview mit der Tageszeitung Die Presse: „(…) Wir sind ein Pensionistenverein, der seine Leute schützt und absichert. Ich war in Singapur und hatte die Gelegenheit, mit einigen Angestellten von Firmen zu sprechen, mit denen ich zu tun habe. Sie wussten nicht, was eine Pflichtversicherung ist. Sie versichern sich alle selbst, und es geht ihnen gut damit. Ein Tanz ohne Netz. Wir haben hier ja auch immer ohne Netz getanzt. Das Netz ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts und wahrscheinlich eine von kurzer Dauer.“ In dieser Lesart erfahren ‚Freiheit‘ und ‚Leistung‘ eine zutiefst kapitalistische, neoliberale Interpretation dieser Begriffe. Denn so interpretiert, ‚bringen‘ sie etwas, meist Geld, sind also geldeswert. Nicht Kreativität, Idee, Fortschritt werden anerkannt, nein, es geht um den schnöden Mammon an erster Stelle und dann kommt lange nichts. Wie seht Ihr das, was habt Ihr in Kunst und Kultur dazu zu sagen? Welche Menschen und welche Gesellschaft bekommen wir auf diesem Weg?
Auf Eure Beiträge freut sich die gfk oö, Christian Horner